In welcher Fachrichtung arbeiten Sie, Klinik oder Praxis, Teilzeit oder Vollzeit und wie viele Kinder haben Sie?
Ich arbeite als Stv. Oberarzt mit einer Vollzeitstelle (100% = regulär 50h/Woche) in der Orthopädie/Traumatologie eines grössen nicht-universitären Spitals in der Schweiz und stehe kurz vor der Facharztprüfung. Wir haben eine 15 Monate alte Tochter.
Wie organisieren Sie Ihren Alltag mit Beruf und Kind/ern?
Bei zwei berufstätigen Ärzten als Eltern ist das eine der grössten Herausforderungen, seit meine Partnerin nach der Geburt und Mutterschutz wieder zu arbeiten begonnen hat. Sie hat eine 60%-Stelle und muss aber länger als ich zur Klinik pendeln, d.h. sie ist täglich pro Weg ca. eine Stunde mit dem Zug unterwegs. Da sie Montag bis Mittwoch arbeitet, ist die Kleine an diesen drei Tagen in der KITA meiner Klinik, wohin ich sie Montag bis Mittwoch morgens mitnehme und abends wieder abhole.
Wir können nur die Kita an der Klinik nutzen, da alle anderen Kitas keine so langen Öffnungszeiten anbieten, dass dies mit unserem Dienstbeginn und -schluss vereinbar wäre. Wenn ich die Kleine um 17.30 Uhr aus der Kita hole, ist sie bis wir zu Hause sind schon so müde, dass sie im Bett liegt, bevor Mama nach Hause kommt. Donnerstag und Freitag ist Mama-Tag. Wenn ich Spätdienst bis 20 Uhr habe, muss Mama rechtzeitig aus ihrer Klinik los, damit sie vor dem Kita-Ende die Kleine rechtzeitig abholen kann, was manchmal in Stress ausartet. Wenn einer von uns Wochenende arbeitet, kann der andere an diesem Wochenende nicht arbeiten – hier sind wir auf den Dienstplaner und dessen Verständnis angewiesen.
Die Großeltern sind mind. 3 Stunden und eine Staatsgrenze entfernt, würden aber in Notfällen einspringen und die Kleine hüten kommen können, wenn wir rechtzeitig um Hilfe rufen. Nachtdienste und Feiertagsdienste stellen nun eine planerische Herausforderung dar und auch die Woche zwischen Weihnachten und Silvester, da das die einzige Woche im Jahr ist, in der die Kita komplett geschlossen bleibt, aber unsere Dienste weitergehen. Wir sind für unsere Organisation der Kindsbetreuung auf eine möglichst frühzeitige Dienstplanung angewiesen.
Haben Sie sich für Elternzeit entschieden und wie lange? Wie haben Sie diese Elternzeit und Pause vom Arbeitsleben empfunden?
Da wir in der Schweiz leben und arbeiten, gibt es (leider) keine Elternzeit. Die Schweiz ist in der Familienpolitik noch sehr rückständig. Bis 2021 gab es vor der Geburt für die werdende Mutter keinerlei Mutterschutz und nur wer krank geschrieben wurde, konnte vor der Geburt daheim bleiben. Nach der Geburt hatte die Mutter Anspruch auf 14 Wochen Mutterschutz. Der werdende Vater bekam zur Geburt gesetzlich einen freien Tag garantiert (wenn die Wehen länger als 24 h gehen, musste er schon wieder arbeiten, wenn der Arbeitgeber darauf bestand). Elternzeit für Väter war nicht vorgesehen, man musste seine Urlaubstage (gesetzlich sind in der Schweiz 20 Urlaubstage/Jahr vorgesehen) einsetzen, wenn man rund um die Geburt frei haben wollte. Seit 2021 hat sich die Schweizer Politik jetzt dazu durchgerungen wenigstens einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub gesetzlich zu garantieren.
Wenn die Mutter nach 14 Wochen noch nicht wieder arbeiten gehen will, kann sie (je nach Arbeitgeber) unbezahlten Urlaub beantragen. So haben wir das nach der Geburt auch gemacht, sodass Mama nach den 3 Monaten Mutterschutz noch 4 Monate im unbezahlten Urlaub daheim bleiben konnte – aber das kann sich nicht jeder leisten. Zur Geburt hatte ich 3 Wochen Ferien eingetragen und musste danach wieder regulär arbeiten gehen.
Einige Arbeitgeber (Volvo, Novartis, Google…) sind hier schon viel weiter und bieten ihren schweizer Mitarbeitern von sich aus deutlich längere Elternzeit-Optionen an. Leider ist dies aber nicht die Regel und mit Verweis auf den Mittelstand wurde bisher jeder Versuch eine längere Elternzeit einzuführen an der Urne abgeschmettert.
Insgesamt finde ich, dass die Schweiz hier deutlichen Reformbedarf hat und ihre veralteten Ansichten von Familie und Gesellschaft sowie Gleichstellung von Mann und Frau an die heutige Zeit anpassen sollte. Gerne hätte ich länger als 3 Wochen frei gehabt, um v.a. meine Partnerin zu unterstützen und ihr Erholungszeit zu geben.
Welche Probleme sehen Sie in der Vereinbarkeit vom Beruf als Arzt und Vater?
Gerade in meinem Fachgebiet sind viele der Chefs noch „nach dem alten Schlag“, bei dem die Frau daheim blieb und die Kinder hütete und sie gleichzeitig Karriere machen konnten. Von einigen Chefs hörte ich sogar, dass man bei Wunsch nach Reduktion der Vollzeitstelle auf z.B. 80%-Stelle „seine Karriere an den Nagel hängen würde“ und nur noch „Hobbyorthopäde“ sei.
Ich hoffe, dass die nachwachsende Generation der Führungskräfte in den Kliniken einsieht, dass es neben dem Leben für die Klinik auch ein Familienleben geben kann und man beide Seiten voneinander profitieren können.
Auch bei Dienstplanung und Rücksicht im Spital bezüglich Überstunden und zusätzlichen Aufgaben muss in Zukunft mehr Acht gegeben werden, wer ggf. familiäre Verpflichtungen hat (bei mir z.B. Abholen aus der Kita, Kindsbetreuung am Wochenende). Gerne würde ich manchmal für eine OP länger bleiben, kann dies aber inzwischen nicht mehr, weil ich die Verantwortung trage, dass mein Nachwuchs rechtzeitig aus der Betreuung abgeholt wird, nach Hause kommt und ins Bett gebracht werden will. Auch ein spontanes Einspringen bei einem Ausfall einer Kollegin/eines Kollegen kann ich mit Familie nur noch mit genug Vorlauf und Planung der Betreuung anbieten.
Ich hoffe nicht, dass durch die Verpflichtungen neben der Arbeit im Spital meine weitere Karriere und Chancen verbaut sind, weil die entsprechende Führung das Gefühl bekommt, dass ich nicht motiviert genug wäre oder mit Familie „einen Klotz am Bein“ hängen habe.
Familiengründung in der Weiterbildungszeit zum Facharzt – ein kluger Weg?
Ich denke es gibt nie den richtigen Zeitpunkt für oder gegen die Familiengründung. Wenn man auf den perfekten Zeitpunkt wartet, kann man ihn so weit nach hinten herauszögern, dass es dann fast schon zu spät wird. Ich habe das bei einigen Kolleginnen erlebt, die lange warteten und dann mit Ende 30 richtige Probleme hatten Nachwuchs zu bekommen.
Zunächst ist man frisch aus dem Studium und möchte endlich arbeiten. Dann ist man in der Facharztausbildung und möchte seinen Katalog füllen. Dann ist man frischer Oberarzt und möchte Erfahrung und Routine. Dann ist man erfahrener Oberarzt und möchte die Routine umsetzen… man muss sich irgendwann aktiv dafür entscheiden, Nachwuchs zu wollen und ich denke alles andere findet sich.
Wie haben Sie Ihren Wiedereinstieg nach der Elternzeit erlebt?
Da es keine Elternzeit gab, hatte ich nur drei Wochen Ferien und musste danach wieder arbeiten gehen. Der Wiedereinstieg war einerseits gut, weil ich die Arbeit vermisst habe, andererseits aber habe ich das Gefühl gehabt, meine Partnerin mit dem Baby alleine zu lassen und zu wenig unterstützen zu können.
Wie hat sich Ihre Arbeitsweise, nachdem Sie Vater geworden sind, verändert?
Durch den Nachwuchs hat sich die Sichtweise auf einige Dinge verändert. Der Dienstplan wird nach Familientauglichkeit gecheckt, neu eingeführte Dienste bei Neurungen im Dienstmodell dahingehend kritisch beäugt, ob die Betreuung und Versorgung der Kinder der KollegInnen mit Familie gewährleistet werden kann.
Ich bin nicht mehr so motiviert spontan länger zu bleiben oder irgendwo mit der Gefahr für lange Überstunden einzuspringen („Bleib doch noch 3 Stunden, vielleicht kannst du ja noch dies und jenes tun“). Ich versuche vorausschauend zu arbeiten und möglichst viele Arbeiten vorzubereiten, damit ich z.B. nach Ende des Op-Tages schnell aus dem Spital und nach Hause komme und nicht noch zu viel administrative Dinge nachmittags zu erledigen habe.
Zu viele Abwesenheiten von daheim, aufgrund Fortbildung oder Wochenenddienste, erzeugen in mir manchmal ein schlechtes Gewissen die Familie im Stich zu lassen und meine Partnerin mit dem Nachwuchs nicht ausreichend zu unterstützen.
Wie sehen Sie die Unterstützung durch Gesellschaft, Arbeitgeber und Kollegen für arbeitende Mütter und Väter?
Ich denke diese Frage habe ich oben schon erläutert und würde mir wünschen, dass die Gesellschaft hier in der Schweiz den Wert der Familie schätzen lernt und dass Familie kein Privatvergnügen ist, sondern in die Zukunft der Gesellschaft investiert ist.
Fühlen Sie sich gleichberechtigt gegenüber Ihren weiblichen Kolleginnen? Haben Sie die gleichen Chancen?
Gerade in meinem Fachgebiet ist eine Mehrzahl der Kollegen männlich, wenngleich zunehmend auch weibliche Orthopädinnen und Traumatologinnen bei uns arbeiten. Diese haben in der Testosteron geprägten Arbeitswelt teilweise den Vorteil der weiblichen Reize, die sie je nach Charakter auch sehr gezielt einzusetzen wissen. Dennoch habe ich bisher nie das Gefühl gehabt, dass es in den Kliniken, in denen ich gearbeitet habe, eine allzu grosse Differenz zwischen weiblichen oder männlichen MitarbeiterInnen und deren Förderung oder Chancen im Klinikleben gab.
Welchen Ratschlag würden Sie anderen Ärzten, die über die Familienplanung nachdenken, geben?
Seid euch bewusst, dass es komplizierter und eure persönlichen Freiheiten eingeschränkt werden. Seid euch bewusst, dass es viel Arbeit und Planung braucht, um das Leben (v.a. mit zwei arbeitenden Elternteilen) zu managen. Seid euch bewusst, dass es vielleicht mittelfristig auch ein Zurückstellen eigener Ziele und Karriereplanung mit sich bringt.
Aber freut euch auf das Verschieben des Fokus raus aus dem reinen Arbeitsleben und Karrierestreben hin zu einer Work-Life-Balance mit sehr vielen schönen Erlebnissen und Momenten abseits der Klinik mit eurem Nachwuchs.
Wartet nicht auf DEN richtigen Moment, sondern gründet eure Familie, wenn IHR bereit dazu seid und lasst euch nicht von Chefs, Oberärzten oder sonst wem reinreden!
Mehr über den Interviewpartner findet ihr unter @LifeReport bei Twitter. Er twittert über seinen Krankenhausalltag, den Alltag als Vater und ambitionierter Rennradler. Lesenswert, authentisch und direkt – einfach folgen.
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